Die Zahl der Ärzte mit homöopathischer Zusatzausbildung nimmt stetig zu. Sie ist in den letzten zehn Jahren um rund 200 Prozent gewachsen (SPIEGEL), aktuell wenden über 7000 Ärzte in Deutschland die Homöopathie in der ärztlichen Praxis an. – Die Ärztin Natalie Grams ist den umgekehrten Weg gegangen: Sie wandte sich von der Homöopathie ab und wirft ihren Kollegen nun in Ihrem aktuellen Buch „Homöopathie neu gedacht“ Betrug am Patienten vor.

Es ist erstaunlich: Einer Ärztin, die jahrelang klassische Homöopathie in ihrer ärztlichen Praxis angewendet hat, fällt plötzlich auf, dass die Homöopathie heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der konventionellen Pharmakologie widerspricht. – Eine Tatsache, die jedem Arzt spätestens dann bekannt ist, wenn er eine „Weiterbildung Homöopathie“ beginnt, die mit der Vergabe der „Zusatzbezeichnung Homöopathie“ durch eine Ärztekammer oder die Verleihung des „Homöopathie-Diploms“ durch den Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) abgeschlossen wird. Natalie Grams hat Jahrelang Weiterbildungen zur Homöopathie besucht und schloss diese nach eigenen Angaben im Jahr 2011 mit einer erfolgreichen Prüfung an einer Landesärztekammer ab. (Nachtrag d. Red.: Deutschlandradio-Wissen hat am am 25.11.2016 ein Interview mit Natalie Grams veröffentlicht, in dem sie behauptet, die Zusatzbezeichnung Homöopathie bereits während ihres Studiums erworben zu haben (Min. 3:05). Das Problem an dieser Aussage ist, dass es rechtlich gar nicht möglich ist, eine ärztliche Zusatzbezeichnung Homöopathie während des Studiums zu erwerben. „Ärztliche Weiterbildung beinhaltet das Erlernen ärztlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten nach abgeschlossener ärztlicher Ausbildung und Erteilung der Erlaubnis  zur  Ausübung  der  ärztlichen  Tätigkeit“, heißt es dazu in der Weiterbildungsordnung (WBO) der Landesärztekammer (LÄK) Baden-Württemberg, die für Grams zuständig ist. Demnach ist das Erlangen einer Zusatzbezeichnung Homöopathie vor einer Approbation ausgeschlossen.)

Grams völlig korrekte Kernthese lautet: „Die Gleichung Homöopathie = Medizin = Naturwissenschaft geht heute nicht mehr auf“ (S. 57). Dabei wird sie in Ihrer Publikation nicht müde, immer wieder zu betonen, dass Medizin aus ihrer (heutigen) Sicht mit Naturwissenschaft gleichzusetzen ist.

Medizin ist mehr als reine Naturwissenschaft

„Medizin ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft, die sich auch wissenschaftlicher Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten bedient“, betonte Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe während seiner zwölf Jahre langen Tätigkeit als Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die 2011 endete. Mit „Erfahrungswissenschaft“ ist jedoch mitnichten eine „anekdotische“ Beweisführung in der Medizin gemeint – sondern die empirische Wissenschaft, die durch Experimente, Beobachtungen oder Befragungen Erkenntnisse bereitstellt. Bereits seit 1975 war Hoppe Mitglied des BÄK-Vorstands, er gründete das „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“, das die vorurteilsfreie Zusammenarbeit von konventionellen und komplementären Methoden in der Medizin fördert.

Die Behauptung, Medizin sei reine Naturwissenschaft, ist keineswegs konsensfähig innerhalb der Deutschen Ärzteschaft, sondern eine randständige Auffassung von Medizin, die häufiger von Naturwissenschaftlern und Wissenschaftsjournalisten vertreten wird als durch Ärzte. Betrachtet der Leser die Online-Quellen, die Grams in ihrem Buch anführt, so wird sichtbar, dass sie ganze 39 mal Wikipedia-Seiten bemüht, und nur acht weitere Websites im Quellenverzeichnis angibt. Ausgelassen hat sie die Wikipedia-Seite zum Stichwort „Medizin“: „Die Medizin (von lateinisch ars medicinae, ‚ärztliche Kunst‘ die ‚Heilkunde‘) […] ist eine praktische Erfahrungswissenschaft.“

Nach der „Charta der medizinischen Professionalität“ orientiert sich die Arztprofession an drei Zielprinzipien: „dem Wohl des Patienten, der Patientenautonomie und der medizinisch-sozialen Gerechtigkeit“ (Dtsch. Ärzteblatt 2010; 107(12): A-548 / B-477 / C-469). Eine besondere Verpflichtung des Arztes, Medizin – wie Grams – ausschließlich als Teil der Naturwissenschaft zu betrachten, gehört nicht zur medizinischen Professionalität. Wohl aber: „keine polemisch überzogenen Äußerungen gegenüber therapeutischen Alternativen“ (Ebd.) zu machen. „Die Homöopathen wollen Teil der Medizin sein, und die Medizin ist nun mal Teil der Naturwissenschaft“, behauptet Grams wie selbstverständlich in einem Stern-Interview. Richtig ist: „Die Homöopathie ist Teil der heutigen Medizin, und diese bedient sich auch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.“ Deshalb sind Laut Sozialgesetzbuch V die Homöopathie und weitere „besondere Therapierichtungen“ grundsätzlich ein Bestandteil der medizinischen Versorgung.

Selektive Studienauswahl

Am heißen Eisen „Meta-Analysen in der Homöopathieforschung“ wird schnell deutlich, dass es Grams augenscheinlich nicht um eine transparente Debatte zur Homöopathieforschung geht. So bezieht sie sich zwar mehrfach auf die Arbeiten von Shang et al. (2005) und Ernst (2002), die der Homöopathie ein negatives Ergebnis bescheinigen (Wirkung nicht besser als Placebo). Die Meta-Analysen von Kleijnen (1991), Linde (1997), Cucherat (2000) und Mathie (2014), die allesamt positive Ergebnisse zur Wirksamkeit der Homöopathie liefern, sucht der Leser bei Grams dagegen vergeblich. Trotzdem behauptet sie: „Eins ist sicher: Weder konnte bislang eine den modernen wissenschaftlichen Kriterien genügende Studie nachweisen, dass die Homöopathie tatsächlich eine Wirkung hat, die über einen Placebo-Effekt hinausgeht (Ernst 2002; Sheng et al. 2005), noch lassen sich ihre Prinzipien wissenschaftlich erklären“ (S. 61).

Ausgesprochen hilfreich ist in diesem Kontext die Arbeit von Prof. Robert G. Hahn mit dem Titel „Homeopathy: Meta-analysis of pooled clinical data“ (Band 20 ( 5), 2013; 376-381). Hahn ist ausgewiesener Forscher und Professor für Anästhesie und Intensivmedizin an der Universität von Linköping und Verfasser einiger hunderter wissenschaftlicher Arbeiten im Bereich der Anästhesie und Intensivmedizin, außerdem wurde er ausgezeichnet durch mehrere Forschungspreise. Und: – Er hatte bislang rein gar nichts mit Homöopathie zu tun. Motiviert durch eine Auseinandersetzung um die wissenschaftliche Beurteilung der Homöopathie im Internet, hat Hahn die bisherigen Meta-Analysen zur Homöopathie kritisch geprüft. Er kommt zu dem Ergebnis, dass einige „Meta-Analysen zur Homöopathie negativ sind, weil 90 Prozent der Daten ausgeschlossen werden“. Und tatsächlich wurden beispielsweise bei Shang et al. (2005) insgesamt 110 Studien in die Metaanalyse eingeschlossen – am Ende wurden jedoch nur acht Studien ausgewertet, ohne die Kriterien zur Studienauswahl transparent zu machen.

Darüber hinaus räumt Hahn mit „Mythen“ der Homöopathieforschung auf, die sich insbesondere bei Grams finden. Die These: „Es gibt keine einzige positive Homöopathie-Studie“ ist laut Hahn falsch, denn der größte Anteil aller Homöopathie-Studien zeigt signifikant positive Effekte. Und die These: „Die Qualität der Homöopathie-Studien ist gering“ ist laut Hahn ebenfalls falsch, weil dies bereits in mehreren Arbeiten gut untersucht und widerlegt worden sei.

In der Schweiz ist die Homöopathie gleichberechtigter Bestandteil der medizinischen Grundversorgung geworden, nachdem wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der Homöopathie vorgelegt wurden. Der in diesem Kontext relevante HTA-Bericht kommt zur Schlussfolgerung: „Die Wirksamkeit der Homöopathie kann unter Berücksichtigung von internen und externen Validitätskriterien als belegt gelten, die professionelle, sachgerechte Anwendung als sicher“ (Effectiveness, Safety and Cost-Effectiveness of Homeopathy in General Practice – Summarized Health Technology Assessment; Forsch Komplementärmed 2006;13(suppl 2):19–29).

Die Liste ließe sich erweitern. Beispielsweise um den Schweizer Physiker Stephan Baumgartner, der einen signifikanten Effekt von Homöopathika auf das Wachstum von Wasserlinsen nachgewiesen hat. Natalie Grams behauptet trotzdem: „Es gibt keine Studien, die eine Wirkung der Homöopathie tatsächlich und zweifelsfrei belegen; allenfalls ein unspizifischer Placebo-Effekt kann auftreten“ (S. 61). Warum das so sein muss? – Grams wurde bewusst, dass die Verdünnung (bzw. Potenzierung) der homöopathischen Arzneimittel dem heutigen Stand der Naturwissenschaft widersprechen: „Der Wirkstoff ab einer Potenz D6 ist so sehr verdünnt, dass er praktisch nicht mehr für eine arzneiliche Wirkung verantwortlich sein kann”, erklärt Grams. Ergo: Wirkung ausgeschlossen. Dann fügt sie zum Thema Hochpotenzen (ab der Potenz C30) einen unsinnigen Superlativ hinzu: „Hier hat die Verdünnung einen so hohen Grad erreicht, dass mit absoluter Sicherheit keine materielle Wirkung durch die Ursprungssubstanz mehr zu erwarten ist.” Ergo: Wirkung „absolut sicher” ausgeschlossen.

Die „Ein-Argument-Methode“

Grams äußert in ihrem Buch auch sehr wertvolle Kritik, – beispielsweise die homöopathischen Arzneimittelprüfungen oder die Auswahlkriterien der für einen Patienten individuell passenden homöopathischen Arznei betreffend. Doch leider entkräftet die Autorin ihre differenzierte Kritik immer wieder selbst – mit der „Ein-Argument-Methode“. Wozu an Arzneimittelprüfungen, Repertorien oder Materiae Medicae differenzierte Kritik üben, wenn die Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel per se von der Autorin ausgeschlossen wird? Wozu die Studienlage vor diesem Hintergrund diskutieren? Von diesem Argument ausgehend – der pharmakologischen Unplausibilität von homöopathischen Arzneien – erübrigt sich eine konstruktive Debatte zur ärztlichen Homöopathie.

Sowohl doppelblind-randomisierte Studien als auch Studien aus der Versorgungsforschung belegen zwar, dass die Homöopathie über einen reinen Placebo-Effekt hinaus wirkt. Trotzdem werden Homöopathie-Kritiker diese Ergebnisse nie akzeptieren. Der Grund: der aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisstand wird kurzerhand über jede Ergebnisse der empirischen Forschung gestellt. „Es liegen heute mehr als 200 randomisierte klinische Studien zur Homöopathie vor, von denen mehr als die Hälfte ein statistisch signifikantes positives Ergebnis zugunsten der Homöopathie aufweist“, schreibt beispielsweise Dr. Michael Teut von der Charité Berlin. Insgesamt macht die Studienlage deutlich: Es gibt das Phänomen einer wirksamen Homöopathie. Hat die Wissenschaft die Aufgabe, diese Ergebnisse aufgrund der pharmakologischen Unplausibilität zu ignorieren?

„Aus dem Umstand, dass ich ein Phänomen nicht erklären kann, schließe ich nicht, dass es nicht existiert, sondern nur, dass seine Existenz geprüft werden sollte, um dem Fortschritt der Wissenschaft zu dienen“, lautet ein bekanntes Zitat des Berliner Physikers Martin Lambeck. Wer diese Auffassung von Wissenschaft teilt, kann die positiven Studienergebnisse zur Homöopathie nicht länger mit dem Hinweis auf Unplausibilität vom Tisch fegen. Vielmehr wird die Homöopathie zu einem Motor für den Fortschritt in der Wissenschaft. – Auch Theorien in der Naturwissenschaft sind oftmals der „letzte Stand des Irrtums“. Im Stern-Interview wird Grams gefragt, ob sie homöopathische Ärzte kenne, die der Homöopathie jetzt ebenfalls „abgeschworen“ hätten: „Nein“, ist ihre Antwort.

Mehr Hintergrundinformationen finden Sie in unseren Fakten zur Homöopathie

Physiker Dr. Stephan Baumgartner zur Homöopathie-Forschung

Foto: DZVhÄ